Wortlager / Markus Kutter
 
     

       

4. Der Europa-Entwurf des Kantonstierarztes

 

Im Frühling 1923 war von Richard N. Coudenhove-Kalergi das Buch „Pan-Europa“ erschienen, der Jugend Europas gewidmet. Am 5. September 1929 hielt der französische Aussenminister Aristide Briand, unterdessen Ehrenpräsident der pan-europäischen Bewegung, seine grosse Rede über einen europäischen Zusammenschluss vor dem Völkerbund in Genf. Der deutsche Aussenminister Gustav Stresemann kam vier Tage später auf diesen Vorschlag zurück, ohne ihn vorbehaltlos zu unterstützen, aber mit viel Beifall für die wirtschaftlichen Aspekte des Vorhabens. („Wo bleibt das europäische Geld, wo die europäische Briefmarke, die wir haben sollten?“) Am 17. Mai 1930 wurde das offizielle französische Memorandum über eine Europäische Union den Regierungen aller Staaten Europas zugestellt, aufgrund dessen der Völkerbund am 17. September 1930 eine Kommission für das Studium einer solchen Union einsetzte.

1923 und 1930 waren somit Daten, die im Hinblick auf ein vereinigtes Europa erhebliche Bedeutung besassen. Zwischen ihnen hatten sich weitere Dinge ereignet, die in der Vorstellung der Zeitgenossen die Lage im positiven Sinn beeinflussten: 1925 wurden die Locarno-Verträge geschlossen, die die Hoffnung signalisierten, Deutschland und Frankreich seien auf dem Weg der Versöhnung weit vorangekommen; 1928 folgte der Briand-Kellogg-Pakt, der den Krieg und Kriege überhaupt grundsätzlich ächtete; über die ganze Welt traten ihm mehr und mehr Regierungen bei. Zugleich wuchs, wiederum im Völkerbund, die Einsicht, dass neben den politischen Zielsetzungen die wirtschaftlichen immer mehr Bedeutung gewannen.

Es gab aber auch problematische Veränderungen: Das Vertragswerk von Versailles bürdete Deutschland und Österreich so gewaltige Reparationsforderungen auf, dass der inflationäre Zusammenbruch der alten Reichsmark unausweichlich wurde. Im November 1923 wurde die Papiermark von der Rentenmark abgelöst. Ohne amerikanisches Kapital hätten weder die Reparationsleistungen Deutschlands aufgebracht noch die für die Industrie notwendigen Investitionen getätigt werden können; somit waren neben den Reparationsschuldnern Deutschland und Österreich auch die Reparationsgläubiger Frankreich und England von amerikanischen Darlehen abhängig geworden. Die nach dem Weltkrieg vorgenommene Zerstückelung der einstigen Donau-Monarchie in neue souveräne Teilstaaten hatte zur Folge, dass sich die Zollgrenzen quer durch Europa vermehrt hatten. Eine internationale Wirtschaftskonferenz im Genf des Völkerbundes hatte 1927 dringend empfohlen, wenigstens die Zolltarife zu senken, freilich ohne Erfolg.

Wie komplex die gegenseitigen Abhängigkeiten finanzieller Natur auch über den Atlantik hinweg geworden waren, sollte sich beim Schwarzen Freitag der New Yorker Börse im Oktober 1929 zeigen. Er wurde zum Ausgangspunkt der bisher grössten Krise in Amerika und Europa, schuf Arbeitslosenheere, zerstörte in vielen Ländern den gewerblich-bäuerlichen Mittelstand. Bei den Wahlen in den Deutschen Reichstag vom September 1930 konnten die Nationalsozialisten die Zahl ihrer Mandate von bisher 12 auf 107 erhöhen – ab jetzt würde die deutsche (und mit ihr die europäische) Politik mit Hitler rechnen müssen.

Stichworte für die Lage, die einen in Basel wohnhaften Autor zur Feder greifen liess, erstmals 1923 und noch einmal sieben Jahre später. Was wollte er? Der Titel seiner knappen Broschüre von 1923 sagt es deutlich: „Grundzüge zur Liquidation des grossen Krieges und zum Aufbau eines wirtschaftlich und politisch Neuen Europa“. Das kleine Buch von 1930 mit etwas über 200 Seiten Umfang blieb beim Thema, aber formulierte es etwas anders: „Souveräner Europäischer Bund/Das Bekenntnis der Europäer“. Dass beide Publikationen zusammengehörten, dass die zweite aus der ersten gewissermassen herausgewachsen war und dass die sich weiter verändernde politische und ökonomische Lage den ursprünglichen Gedanken modifizieren musste, war dem Verfasser klar. Zwei Kräfte bezeichnete er für den Zeitraum von 1923 bis 1930 als wesentlich: „Es ist einerseits der Weltfriedensgedanke, der sich im Völkerbund und im Schiedsgerichts- und Kriegverbotswesen zu realisieren begonnen hat, und andererseits der europäische Zusammenschlussgedanke, der seit dem Jahre 1923 zusehends an Boden gewinnt.“

Über den Autor wissen wir nicht allzu viel. Er stammte aus der Ostschweiz, hatte 1896 sein veterinärmedizinisches Abschlussexamen gemacht und war zur Zeit der Niederschrift der zweiten Publikation noch aktiver oder soeben pensionierter Kantonstierarzt in Basel. „Der Schreiber dieser Zeilen (...) hat dreissig Jahre lang so zu sagen Tag für Tag als praktizierender und ein paar Jahre als beamteter Tierarzt gewirkt und ist in tausend Nächten dem Rufe der Bauern gefolgt; sah nicht nur in manchen Stall, sah auch in manches Haus hinein, ergriff nicht nur manche Schwielenhand, sah auch die faltenreiche Stirne, darauf von Dividenden nichts zu lesen war.“ Gestorben ist er, wie eine Zeitungsnotiz zu berichten weiss, in der ersten Hälfte März 1936. Also hat er es vermutlich noch erlebt, wie die Autorität des Völkerbundes vor dem Dritten Reich und Italien zurückweichen und die grossen Hoffnungen aus der Aera Briand-Stresemann begraben werden mussten.

Was diesen Arnold Nuesch veranlasste, sich neben seinen zahlreichen veterinärmedizinischen Schriften mit dem Aufbau eines neuen Europa zu beschäftigen, wissen wir auch nicht genauer. Es muss für ihn ein dringendes Anliegen gewesen sein, sonst hätte er kaum soviel Ausdauer aufgebracht, die erste Gedankenskizze von 1923 nach sieben Jahren in einer fast sieben Mal ausführlicheren Publikation weiter zu entwickeln. Er tat das so konsequent, dass spätere Leser oft den Eindruck bekamen, hier sei ein kompetenter Ökonom am Werk, aber sicher kein Kantonstierarzt.

Der völlige Zerfall der einstigen Reichsmark im Inflationsjahr 1923 beeindruckte Arnold Nuesch tief; von Basel aus mit der Nachbarstadt Lörrach oder der Eisenbahnerstadt Weil am Rhein erlebte man das Drama der Vernichtung des deutschen Mittelstandes aus nächster Nähe. Die Notwendigkeit eines Paradigmawechsels, also der Umstellung der Verständnis- und Handlungskriterien, drängte sich für Nuesch auf: „Die Intellektuellen aller Länder müssen es zu ihrer Sache machen, mit dem Überlebten aus der Nachkriegszeit aufzuräumen und den Schutt und die Trümmer aus der Kriegszeit zu entfernen, und sie müssen am Werden des neuen Gebildes Pionierarbeit tun, sich nicht in der Rolle des uninteressierten Zuschauers gefallen.“ Noch knapper gesagt hiess das: „Die Vorkriegszustände dürfen nicht als Ziel und die Nachkriegsmittel können nicht als Mittel genügen.“

Für Nuesch war es evident, „dass die auf die Kriegsschäden sich beziehenden Forderungen unzweifelhaft über die heute und in absehbarer Zeit disponiblen Zahlungsmittel weit hinausgehen, sofern diese Mittel nicht einer den veränderten Verhältnissen gerecht werdenden Neuordnung unterzogen werden“. Also seien in Europa die Schaffung eines neuen Besitzbegriffes und die Einführung einer neuen Währung nötig. „Kein einzelner Staat ist dies von sich aus gründlich zu lösen im Stande. (...) Nur ein Staatenbund kann es.“ So wie in Deutschland die inflationäre Papiermark 1923 von der neu geschaffenen Rentenmark abgelöst worden war, sollten nach der Vorstellung von Nuesch in ganz Europa die internationalen Finanzverhältnisse auf der Basis einer grösseren Währung neu geordnet werden: Die Völker würden sich zu einem Staatenbund zusammenfinden, der als erstes eine Noten-Emissionsbank ins Leben rufen sollte, die neue gesamteuropäisch gültige Banknoten herausgeben würde. Diese Noten wären nicht durch Gold, sondern durch Hypotheken auf dem gesamten Grundbesitz der nationalen Staaten gedeckt, darum wäre dieses Geld letztlich eine „Immobilien-Währung“, unabhängig von den bisherigen Goldwährungen. Jeder Mitgliedstaat würde aufgrund seiner Immobiliengarantien von der Bundesbank Bundesnoten „mit nationalem Gepräge und Charakter“ erhalten, das bedeutete, dass diese Bundesnoten auf der einen Seite nationalstaatlich, auf der anderen Seite bundesstaatlich deklariert wären. Sie hätten „demnach gleichzeitig übernational und national“ Gültigkeit.

Die finanztechnischen Überlegungen des Basler Kantonstierarztes aus dem deutschen sind heute nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Aber erstaunlich bleibt, dass Arnold Nuesch im gleichen Jahr, da Coudenhove-Kalergi mit seinem Buch „Pan-Europa“ in Wien aktiv wurde und Dr. Hjalmar Schacht die Rentenmark schuf, ein Projekt zu formulieren verstand, mit dem die finanziellen Nöte der europäischen Staaten auf dem Umweg über eine völlig neue Bundesbank dazu benutzt werden sollten, ein übernationales Gebilde in die Welt zu setzen.

Diese Idee liess ihn nicht mehr los. Erstmals im Herbst 1926 schloss er sich mit Gesinnungsfreunden zusammen: „Es besteht mit Sitz in Basel unter der Bezeichnung ,Europäerbund‘ eine Vereinigung von Kollektiv- und Einzelmitgliedern europäischer Staatsangehörigkeit.“ Im September 1928 wurden die Gründungsstatuten revidiert; neben Nuesch trat im „Grossen Initiativ-Comitee des Europäerbundes“ der Basler Kaufmann K. Christoph Sarasin (1906-1992) auf, damals also ein junger Mann, der sich vorwiegend mit Jagden im Elsass und Jahrzehnte später mit elsässischen Immobilien beschäftigte. Die Leitsätze des Europäerbundes wurden unabhängig von den eigentlichen Statuten ausformuliert:

1) Pflege des europäischen Zusammengehörigkeitsgedankens.
2) Studium der Frage einer europäischen Währung.
3) Studium der Frage einer europäischen Zollunion.
4) Studium der Frage einer europäischen Hilfssprache.
5) Studium der Frage einer europäischen Wehrmacht.
6) Studium der Frage eines Europäischen Bundes
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Die Reihenfolge dieser Hauptaufgaben war für Nuesch wichtig: Erst sollten die Probleme einer europäischen Währung erkannt und angegangen werden, danach könne man sich mit den Zöllen beschäftigen, eine Lösung für die Sprachenvielfalt finden und ein europäisches Heer konzipieren, und erst jetzt würden die Art und die Form eines Europäischen Bundes auf der Traktandenliste stehen.

Das kleine Buch, das Nuesch 1930 publizierte, war nach seinem eigenen Zeugnis eine Rekapitulation seiner seit dem Sommer 1928 publizierten „Europäer-Blätter“, also der Publikation der von ihm gegründeten Vereinigung. Wie es einem typisch schweizerischen Politikverständnis entsprach, wollte sich Nuesch immer wieder fragen, wie er als ein der direkten Demokratie verpflichteter Schweizer zu den Perspektiven einer übernationalen gesamteuropäischen Politik stand. Die vom damaligen deutschen Reichtagspräsidenten Löbe geprägte Kurzformel „Europa – eine grosse Schweiz“ schmeichelte ihm, aber dabei liess er es nicht bewenden. Er verstand sie so, dass „wir (Schweizer) dürfen von einem Neuen Europa mehr eine Annäherung an unseren Kurs erwarten, als umgekehrt“, aber „in der europäischen Frage wird die Schweiz unbedingt eine abwartende Stellung einnehmen, aber keine passiv-abwartende, sondern eine aktiv-abwartende“.

Auf die sich anbietenden Parallelen zwischen der bundesstaatlichen Schweiz und einem sich aus Nationalstaaten vereinigenden Europa kam Nuesch mehr als einmal zu sprechen. „Europa wird im Grossen sein, was die Schweiz im Kleinen ist, eine Staaten-Union, indem die Hoheitsrechte sich den neuzeitlichen Existenzbedingungen entsprechend gliedern in staatsrechtliche und bundesrechtliche Souveränitäten oder in nationale und europäische.“ Für die Überwindung der sprachlichen, ethnischen und kulturellen Unterschiede zwischen den europäischen Nationen konnte die Schweiz als Modell gelten: „Uns fehlen ja die einheitliche Landessprache, die Einheitlichkeit der Rasse, die Einheitlichkeit kultureller Weltanschauung, genau, was ganz Europa auch fehlt.“

Die Aufmerksamkeit, mit der hier den Gedanken von Arnold Nuesch nachzugehen versucht wird, heisst nicht, dass sein Entwurf eines Europabundes ein singuläres Textdokument darstellte. Das Konzept von Nuesch stand auf der einen Seite in Verbindung zu den durch den Ersten Weltkrieg zugleich beförderten wie in Frage gestellten europäischen Vereinigungsprojekten und reflektierte auf der anderen Seite die vom Völkerbund ausgelösten Debatten, mit denen sich die Visionen von Richard Coudenhove-Kalergi verbanden. Die Überlegungen des Basler Kantonstierarztes gingen aber auf jeden Fall erheblich über den pazifistischen Ruf nach einer europäischen Vereinigung hinaus. Nuesch schlug eine intelligente Etappierung der einzelnen Abläufe vor; er konnte sich das Heranwachsen eines europäischen Gebildes übernationaler Natur nur als einen Prozess denken, bei dem ein einmal erreichter Zustand den nächsten induzierte, dann notwendig und schliesslich unumkehrbar machte. Eine europäische Währung, von einer Bundesbank getragen, in ihrem physischen Erscheinungsbild zugleich national und übernational gekennzeichnet, schien ihm der erste grundlegende Schritt zu sein. Er dachte sich für dieses neue Geld sogar einen Namen aus, es sollte „Ropia“ heissen (also aus dem gleichen Stamm wie der spätere Euro gebildet), dazu schrieb er: „Es scheinen gute Gründe zu bestehen, dass die Ropia etwa auf den Wert eines amerikanischen Dollars eingestellt werde“, wobei man aus heutiger Sicht nicht vergessen darf, dass der Wert des damaligen Dollars im Verhältnis zum Schweizer Franken etwa drei Mal höher war.

Der nächste Integrationsschritt sollte eine europäische Zollunion sein, welche Forderung damals, Mitte der zwanziger Jahre, insofern kühn war, als zu den wichtigsten Staatseinnahmen noch immer die Zölle gehörten. Nuesch dachte sich einen langsamen und vorsichtigen Abbau der bestehenden Zollschranken in Europa aus, machte sich zugleich Sorgen um das Schicksal der Landwirtschaft in den verschiedenen Staaten, die beim Wegfall des jeweiligen Zollschutzes ihre Überlebenschancen verlieren konnte.

Das nächste Integrationsproblem stellte sich ihm in der Sprachenfrage. „Wir müssen auf eine Sprachenzukunft abzielen, welche die sprachlichen Schranken für den allgemeinen Verkehr aller Europäer unter sich nicht mehr kennt.“ Die sprachliche Verständigung müsse dadurch bewerkstelligt werden, „dass für alle Länder Europas, die sich dem kommenden europäischen Bunde anzuschliessen wünschen, zum voraus die Verpflichtung besteht, die vom Bunde als europäische Hilfssprache anerkannte Sprache als freiwilliges, unentgeltliches Lehrfach in die Volks- und Mittelschulen aufzunehmen“. Der Basler Tierarzt liess durchblicken, dass als europäische Hilfssprache am besten die Welthilfssprache dienlich wäre, und diese konnte nur das Englische sein, vielleicht noch das Französische, aber kaum das Deutsche. Dabei spielte damals in der Kultur- und Kunstdebatte und im Völkerbund das Französische die Hauptrolle.

Endlich die letzte Stufe vor der abschliessenden Gründung des Europäerbundes: das europäische Wehrwesen. Nueschs Analyse: „Die Staaten verlangen Sicherung und Abrüstung, oder Abrüstung und Sicherung, je nach ihrer Auffassung der eigenen Lage. Und sie fühlen sich nicht sicher und rüsten nicht ab. Sie rüsten eher um, sie rüsten vielleicht quantitativ ab und qualitativ auf. Und sie wollen trotz der verbrieften Sicherheit vom Mittel der kriegsgemässen Selbsthilfe nicht ablassen.“ Das aufklärerische Denken von Nuesch kam zum Schluss, dass, wenn wir den Krieg nicht mehr wollen, „so muss ein Zustand geschaffen werden, der die ausreichende Wehrmöglichkeit mit der Unmöglichkeit verbindet, Kriege zu führen. (...) Auf die europäische Frage übertragen, heisst das, dass die Sicherheit der einzelnen Staaten und die Abrüstung praktisch nur durch die Verschmelzung ihrer (der europäischen Staaten) Heere zu einer gemeinsamen Wehrmacht erreichbar sein wird.“

Die letzte Stufe des von ihm vorgeschlagenen Vorgehens gilt der eigentlichen Gründung des Europäerbundes. Sie ist der Abschluss des ganzen Prozesses: „Wenn wir mit dem Bund den Anfang machen möchten, so wäre das die Grundsteinlegung in der Luft.“ In diesem Sinn sind Geld-, Zoll- und Wehrwesen vorbereitende Stufen auf dem Weg zum Europäerbund.

Was wollte Nuesch letzten Endes? Er bediente sich immer wieder eines Begriffes, den er den „Europäismus“ nannte. Diesen setzte er in Parallele zur Schweiz, die Jahrhunderte brauchte, um ein Bundesstaat zu werden. „Hat dieser Schweizerbund nicht gezeigt, dass es eine Staatsform gibt, in der ein polyvalenter Nationalgedanke alt wird und jung bleibt?“ Er wollte, dass dieser Bundesstaat der europäischen Nationen nicht nur auf der Regierungsebene verwirklicht werden sollte, sondern vom Engagement möglichst vieler Menschen mitgetragen würde. Darum entwarf er eine demokratische Vereins- oder Clubstruktur, die in Basel ihr Zentrum haben und sich dann über die Landesgrenzen hinaus entwickeln sollte. (Das Signet dieses Bundes war ein kleines Schweizerkreuz, laut Statuten: „Der Europäerbund führt als Wappen das Schweizerkreuz im Strahlenkranz.“) Für Nuesch war entscheidend, dass – wie er sagte – „der praktische Mann“ mitreden können sollte, denn „es geht nicht an, dass solche Probleme von einigen Politikern und Diplomaten unter Umgehung der Völker erledigt werden“. Nuesch fühlte sich als Schweizer und argumentierte auch so: „Der Auffassung des Europäerbundes entspricht es, dass die Völker zu befragen sind. (...) Auf demokratischer Grundlage allein kann das geeinte Europa zur Entwicklung gelangen.“ Kapital und Arbeit waren in seinem Verständnis keine Gegensätze, sondern ergänzten sich: „Der Kapitalismus wird sozialer, der Sozialismus kapitalistischer.“ Er sah die Gesellschaft seiner Zeit in fliessenden Übergängen: „Jeder Arbeiter ein Mittelständler, jeder Mittelständler ein Kapitalist, jeder Kapitalist ein Arbeiter im weitherzigsten edelsten Sinne des Wortes.“ Von daher war es ihm auch klar, dass das kommunistische Russland einem Europäerbund vorerst nicht beitreten konnte, aber man müsse nur warten auf „das natürliche Überleben des Bolschewismus ohne alles Zutun des Westens.“

Nuesch kannte das von Richard Coudenhove-Kalergi entworfene Pan-Europa. Er war stolz, dass seine eigene Broschüre über den Aufbau eines neuen Europa im gleichen Jahr 1923 erschienen war; Pan-Europa und Euroäerbund waren in seinem Verständnis nicht so sehr Konkurrenten als Bundesgenossen. Umso schlimmer muss er den Klimawechsel vom Oktober 1929 bis in den Herbst 1930 empfunden haben: Noch einmal geriet in der sich ausbreitenden Wirtschaftskrise der Mittelstand unter die Räder, und die Erfolge der Nationalsozialisten in Deutschland liessen erkennen, dass die Spielregeln der europäischen Diplomatie demnächst keine Geltung mehr haben sollten. Nueschs Buch „Das Bekenntnis der Europäer“ kam schon zu spät und hinterliess – sehr anders als das „Pan-Europa“ von Coudenhove-Kalergi – kaum Spuren.

Aus heutiger Sicht besticht am meisten die Überlegung Nueschs, dass ein Vereinigtes Europa als Staatenbund oder Bundesstaat klug daran tut, zuerst einmal die ganz praktischen Dinge wie Zölle, Finanzen, Truppen, Kommunikationsprobleme etc. zu regeln, bevor man sich an die politische und verfassungsrechtliche Absicherung des ganzen Gebildes macht. Es war in seinem Sinn, wenn das sich vereinigende Europa nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Internationalisierung von Kohle und Stahl begann und nicht mit einer Verfassungsdebatte; es ist in seinem Sinn, wenn zuerst der Euro geschaffen und eine Verfassung erst nachher entworfen werden musste. Der Basler Kantonstierarzt war auf einer richtigen Spur, aber fast ein halbes Jahrhundert zu früh.

 
© 2004 Markus KutterNach Oben