Wortlager / Markus Kutter
 
     

       

6. Europa zeigt Flagge

 

Von Hans Domizlaff (1892-1971), dem führenden deutschen Markentechniker der Zwischenkriegszeit, erschien 1932 eine Schrift über Staatssymbole, in der zu lesen war: „Ein Staat kann nicht auf ein alleingültiges, psychologisch wirksames Hoheitssymbol verzichten. Ohne eine allgemein verehrte Flagge sind alle weiteren Propaganda-Mittel und alle materiellen Hilfen zur Erreichung einer innerhalb der heutigen Welt lebensfähigen Volksgemeinschaft zur Hoffnungslosigkeit verdammt.“ Die Geschichte beweise zur Genüge, schrieb er, „dass eine Gemeinschafts-Idee – die für jede politische innere Propaganda einer Staatsgewalt notwendig ist – ohne Symbolik als sichtbare Dokumentierung der organischen Gemeinsamkeit unwirksam bleibt“.

Dass solche Überlegungen vorwiegend in Deutschland gemacht wurden, hatte seinen Grund darin, dass nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches die Republik von Weimar in ihren Hoheitszeichen unsicher war. Kaiserliche Symbole wie der Reichsadler waren noch immer zu sehen, ebenso galt die aus den preussischen Farben schwarz und weiss entwickelte und um das Rot aus einer Flottenflagge ergänzte schwarz-weiss-rote Reichsflagge weiterhin, aber es gab auch Bestrebungen, die eine schwarz-rot-goldene Fahne in Erinnerung an 1848 und die vorausgegangenen republikanischen Bewegungen propagierte. Andere wollten, dass das Zeichen des Eisernen Kreuzes auf den staatlichen Hoheitszeichen in Erscheinung trete – auf jeden Fall fehlten im Vergleich zu Frankreich eine verbindliche Farbenkombination oder im Vergleich zur Schweiz ein klares Symbol wie das weisse Kreuz im roten Feld. (Domizlaff schrieb ausführlich darüber, weshalb grafische Zeichen wesentlich stärker wirken mussten als blosse trikolore Farbkombinationen; die grösste Flaggenbegeisterung herrsche ja bekanntlich in den USA und in Brasilien, und das seien Fahnen mit sogar besonders komplizierten grafischen Zeichen.)

1927 erschien der zweite Band eines anderen Buches, in dem das deutsche Hoheitszeichen- und Flaggenproblem kritisch begutachtet wurde. Dort war zu lesen: „Denn wenn sich auch das deutsche Bürgertum in seinen besseren Parteien nach dem Jahre 1918 nicht mehr dazu bequemen wollte, die jetzt auf einmal entdeckte schwarzrotgoldene Reichsflagge als sein eigenes Symbol zu übernehmen, so hatte man selbst dort der neuen Entwicklung kein eigenes Programm für die Zukunft entgegenzusetzen, im besten Fall den Gedanken einer Rekonstruktion des vergangenen Reiches.“ Das aber war dem Verfasser zuwenig, kam ihm auch als eine Entwürdigung der alten Reichsfarben vor, und so machte er sich als sein eigener Gestalter dahinter, ein neues Zeichen zu entwerfern: "Ich selbst hatte unterdes nach unzähligen Versuchen eine endgültige Form niedergelegt: eine Fahne aus rotem Grundtuch mit einer weissen Scheibe und in deren Mitte ein schwarzes Hakenkreuz.“ So Adolf Hitler im zweiten Band von „Mein Kampf“. Was die Daten anbelangt, so schrieb er: „Im Hochsommer 1920 kam zum ersten Male die neue Flagge vor die Öffentlichkeit. (...) Kein Mensch hatte sie vorher je gesehen; sie wirkte damals wie eine Brandfackel.“

Gedruckt wurde dieser Text 1927 in München, 1923 aber war in Wien ein ganz anderer publiziert worden, der auf der letzten Seite in folgenden Zeilen endete: „Das Zeichen, in dem sich die Pan-Europäer aller Staaten vereinigen werden, ist das Sonnenkreuz: das Rote Kreuz auf goldener Sonne, das Symbol der Humanität und der Vernunft. Diese Flagge der Liebe und des Geistes soll einst von Portugal bis Polen wehen über einem einzigen Weltreich des Friedens und der Freiheit!“ Geschrieben hatte das Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi (1894-1972), damals 28 Jahre alt. Hakenkreuz-Sonnenkreuz – die Parallelität der Begriffe war nicht zu übersehen; und wenn Domizlaff in seinen propagandistischen Reflexionen fast verzweifelt darum bat, zwischen der Psyche eines Individuums und einer Massenpsyche zu unterscheiden und von der Masse nie ein Zeichen der Humanität oder der Vernunft zu erwarten, so mochte er vielleicht an die Formulierungen denken, die sich der österreichisch-böhmische Begründer der paneuropäischen Bewegung ausgedacht hatte.

Wir wissen nicht, wie Domizlaff das Zeichen, das Coudenhove-Kalergi entworfen hatte, beurteilte, falls er es überhaupt je sah. Die vollständige Flagge, wie sie Coudenhove-Kalergi ausgedacht hatte, zeigte ein hellblaues Feld, in dem etwas nach links gerückt eine goldene Sonne stand, analog der roten Sonne in der japanischen Flagge; diese heraldisch gelbe Scheibe war von einem gleichschenkligen roten Kreuz von einer dem dänischen Kreuz vergleichbaren Dicke bis an den abgerundeten Rand der Sonnenscheibe durchzogen. Verglichen mit dem Hakenkreuz lag die Schwäche dieser Fahne in der unsicher definierten Proportion der Scheibe im Verhältnis zur blauen Fläche und dann darin, dass das ganze Symbol einfarbig schlecht zu reproduzieren war und eine zu komplizierten Symbolgehalt hatte.

Der Zweite Weltkrieg, soweit er auch eine Auseinandersetzung unter Symbolen war, konfrontierte das Hakenkreuz mit Sichel und Hammer und dem sowjetrussischen Stern; die Farben der alliierten Streitkräfte waren am auffälligsten präsent in den auf die Flugzeuge gemalten roten, weissen und blauen Kreiselementen nach dem Muster der revolutionären Kokarden, doch auf den amerikanischen Panzern waren ebenfalls Sterne zu entdecken. In der französischen Widerstandsbewegung dominierte gegen Ende des Krieges das Lothringerkreuz mit dem doppelten Querbalken. Das im Deutschland des Frühjahrs 1945 am meisten sichtbare Symbol hingegen war die weisse Fahne der Kapitulation.

Die Nachkriegs-Diskussion über eine Europa-Fahne konnte erst in dem Augenblick beginnen, als eine Organisation entstand, die sich eine gesamteuropäische Aufgabe vornahm. Das war der am 5. Mai 1949 eingerichtete Europarat (mit Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien, Irland, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Schweden und Nordirland als Gründungsmitgliedern). Als sein Standort wurde Strassburg gewählt, seine erste Sitzung fand im August 1949 unter dem Präsidenten Paul-Henri Spaak statt. Schon ein Jahr später war im Europarat von einer Fahne die Rede, aber Spaak sagte: „Unser Bureau hat gar nicht die Macht, ein solches Problem zu lösen. Es scheint eine ganz einfache Frage zu sein, aber in Wirklichkeit ist sie äusserst delikat; bei dieser Sorte von Problemen fällt man auf die Nase. (...) Sie sind pressiert? Sie haben recht es zu sein, aber hier muss man sich ganz langsam beeilen.“ Und dann konnte er seine Kollegen dazu verpflichten, dass sie ihm für jede Sitzung, an der die Flaggenfrage besprochen, aber nicht gelöst wurde, ein Nachtessen schuldeten.

Zum Aufgabenbereich des Europarates gehörte es, das Ideal einer europäischen Einheit zu propagieren und die Europäer darauf vorzubereiten, in Solidarität und Brüderlichkeit zusammen zu leben. Das bedeutete auch eine systematische Bearbeitung des grossen Publikums, Aktionen im Hinblick auf die europäische öffentliche Meinung sollten lanciert werden. Ein europäisches Bewusstsein müsse geschaffen werden, ein wahrhaft europäischer Geist müsse die Völker Europas durchdringen. 1949 gehörte Deutschland nicht zu den Gründungsmitgliedern des Europarates, da es als besiegtes Land galt; dass aber Strassburg zum Sitz des Europarates gewählt wurde, konnte man als einen ersten Brückenschlag zwischen den beiden wichtigsten Nationen Kontinentaleuropas verstehen. Im Sommer 1950 bekam der Generalsekretär des Europarates die Aufgabe, konkrete Massnahmen zur Sensibilisierung der öffentlichen Meinung für eine europäische Union auszuarbeiten; am 23. August 1950 schlug er die Schaffung einer Fahne vor: „Es scheint nützlich, dass die Idee einer Vereinigung der Staaten in Europa durch ein Symbol konkretisiert wird.“ Er wolle dafür besorgt sein, dass der Beratenden Versammlung entsprechende Vorschläge – darunter natürlich auch das Sonnenkreuz von Coudenhove-Kalergi – vorgelegt würden. Die Sache eile insofern, als Enthusiasten sich der Zeichen privater Bewegungen bemächtigen und Phantasie-Embleme auftauchen könnten.

Zwei denkbare Europafahnen, die schon verwendet wurden, standen im Vordergrund: das rote Sonnenkreuz in der gelben Sonne vor blauem Hintergrund der Pan-Europäer und ein grünes E auf weissem Grund der von Duncan Sandys, dem Schwiegersohn Churchills, präsidierten Europäischen Bewegung. Diese Bewegung hatte im Mai 1948 in Den Haag einen Kongress abgehalten, für den sich Sandys eine Fahne ausgedacht hatte: ein rotes E, verschränkt mit einem weissen liegenden U, womit man die entscheidende Buchstabenkombination für eine Europäische Union vor Augen hatte. Coudenhove-Kalergi war über diese Konkurrenz alles andere als erbaut; da sich die beiden Männer persönlich kannten, ergab sich im Frühjahr 1948 eine leicht geärgerte Korrespondenz. Coudenhove-Kalergi kam nicht los vom Verdacht, der Buchstabe E könnte für Sandys neben Europa heimlich auch England bedeuten. Die einzige Änderung, die Sandys vornahm, bestand darin, dass er die Farbe austauschte, aus dem roten E wurde ein grünes E, nachdem mangels Wind in Den Haag die schlaffen Fahnen eher als rote Banner gewirkt hatten. Das grüne E erfreute sich plötzlich zunehmender Popularität, sehr im Unterschied zum Sonnenkreuz; es gab sogar schon Briefmarken mit dem grünen E. Wenn sich der Europarat in Strassburg versammelte, konnte man werblichen Zwecken dienende grüne E‘s selbst in Schaufenstern entdecken.

In der französischen Nationalversammlung stellten am 20. Juli 1950 nicht weniger als 80 Abgeordnete einen Entschliessungsantrag, es sei das grüne E in den Rang eines Staatssymbols zu heben, was Paul Levy, dem Direktor der Presse- und Informationsabteilung im Generalsekretariat des Europarates, gar nicht gefallen wollte; er sah darin den Versuch des Abgeordneten Robert Bichet, die Versammlung in Strassburg vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Am 18. August 1950 einigte sich die Beratende Versammlung, dass eine Europafahne oder ein Europa-Emblem nötig sei, aber dass dafür weder das Sonnenkreuz Coudenhove-Kalergis noch das grüne E von Duncan Sandys, beide Zeichen von privaten Bewegungen, tauglich seien. Der frühere französische Ministerpräsident Paul Reynaud prägte für das grüne E eine Formulierung, die einem Todesurteil gleichkam: Es sehe aus wie eine auf einer grünen Wiese ausgelegte Unterhose! Eine Kommission wurde eingesetzt, die nach einer entsprechenden Verlautbarung Zusendungen und Vorschläge aus allen möglichen europäischen Ländern bekam, natürlich auch von Coudenhove-Kalergi und Sandys, daneben aber von zum Teil ganz unbekannten Leuten. Alles nur Erdenkliche war schon vorgeschlagen worden: Dreiecke, Streifen, Balken, Kreuze, Lilien, Löwen und Adler, Lorbeerkronen, Sterne, als Zeichen des Abendlandes eine untergehende Sonne, die freilich als Symbol für eine aufsteigende Idee nicht gerade sinnvoll schien.

Im Juli 1951 tagte die Kommission des Europarates in London, sogar öffentlich im britischen Unterhaus. Sie hatte Heraldiker hinzugezogen und begann ihre Auswahlkriterien zu definieren. Sie reduzierte die Projekte auf zwölf, zu denen im Dezember die Beratende Versammlung Stellung nehmen konnte. (Von 132 Mitgliedern antworteten nur 48.) Das Sonnenkreuz von Coudenhove-Kalergi machte noch am meisten Stimmen, aber kam nicht über einen Sechstel hinaus; von türkischer Seite wurde ganz entschieden Opposition gegen die Verwendung jeglichen Kreuzes hörbar. Nachträglich kamen noch ein dreizehnter und ein vierzehnter Vorschlag auf die Liste: Ein in Japan domizilierter Deutscher, Carl Weidl Raymon, schlug einen einzigen gelben Stern auf blauem Hintergrund vor; Salvador de Madariaga (1886-1978) wollte verschiedene Sterne mit acht Spitzen auf ebenfalls einem blauen Hintergrund nach den ungefähren geografischen Standorten der europäischen Hauptstädte verteilen; Strassburg bekäme, als Sitz des Europarates, ebenfalls einen und zwar grösseren Stern.

Anfang 1952 rief die Europa-Union Hamburg dazu auf, ihr Entwürfe für eine neue Europaflagge einzuschicken. In einer Pressekonferenz vom 16. Juni 1952 wurden die besten Entwürfe präsentiert. Unter ihnen befand sich einer eines Mitgliedes der Europa-Union in Hamburg, namens Hanno F. Konopath. Er zeigte auf blauem Hintergrund einen Kreis von goldenen Sternen, der nach Konopaths Vorstellung der Anzahl Mitgliedstaaten entsprechen sollte. Nach zuverlässigen Nachrichten lag dieser Entwurf mindestens dem Sekretariat des Europarats-Präsidenten Spaak vor, aber die nachgewiesene Urheberschaft Konopaths litt darunter, dass dieser 1931 einen nationalsozialistisch inspirierten Artikel "Ist Rasse Schicksal?“ veröffentlicht hatte, den man ihm jetzt krumm nahm. Das Generalsekretariat des Europarates beharrte immer darauf, dass ihm der Entwurf Konopaths unbekannt geblieben sei.

Sagen wir es so: Weit entfernt von den damals dominierenden weltpolitischen Ereignissen – dem Korea-Krieg, dem Kalten Krieg in Europa, dem Tod Stalins, der Präsidentschaft Mao Tse Tungs über die Volksrepublik China – beschäftigte sich im westlichen Europa ein kleiner, wenn nicht kleinster Kreis von Eingeweihten mit dem absonderlichen Problem, wie ein auf Vereinigung tendierendes Europa an Fahnenmasten in Erscheinung treten könnte. Das war auch eine Kostenfrage, denn natürlich wäre es billiger, einfach nur eine Europafahne aufzuziehen als vor einem Kongressgebäude 15 nationale Flaggen zu hissen. Aber es stellten sich nicht weniger komplizierte politische Fragen – wieviel Sterne durften auf der Fahne zu sehen sein, nachdem 1953 14 Nationen und als assoziiertes 15. Mitglied das Saarland im Europarat Aufnahme gefunden hatten? Für die deutschen Delegierten im Europarat war es klar, dass die Saar auf keinen Fall als eigenständiges Mitglied gezählt werden durfte.

Im September 1953 stand die Anzahl Sterne ernsthaft zur Debatte, im November 1954 traf sich ein Ad-hoc-Ausschuss für ein Europa-Emblem einmal mehr in Strassburg. Er erwog zuerst acht ineinander verschlungene goldene Ringe auf blauem Grund als Ausweich-Symbol, das schien aber den Ministern zu nah beim Olympia-Zeichen zu liegen. Dann beriet man wieder über die Anzahl Sterne: 14 ging nicht wegen des Saar-Problems, 13 wäre eine Unglückszahl, zehn würden nur die zehn Gründerstaaten berücksichtigen. Generalsekretär Léon Marchal schlug endlich zwölf Sterne vor, und zwar unabhängig von der Anzahl der Mitgliedstaaten. Zwölf war eine fast perfekte Zahl, entsprach der Anzahl von Stunden, Monaten und Sternzeichen, den zwölf Aposteln und den zwölf Stämmen Israels; zwölf war teilbar durch zwei, drei, vier und sechs. Das Ministerkomitee stimmte zu, und damit kam die Empfehlung Nr. 88 am 8. Dezember 1955 mit den zwölf Sternen im Kreis auf azurblauem Grund vor die Beratende Versammlung, die sie einstimmig annahm. Die Presse wurde am 10. Dezember informiert, und am 13. Dezember, morgens zehn Uhr, liess der irländische Aussenminister Liam Cosgrave, damals Präsident des Ministerkomitees, vor dem Château de la Muette in Passy offiziell zum ersten Mal die Europafahne hissen.

Die damalige (und bis heute unveränderte) geometrische Beschreibung definierte die neue Fahne wie folgt: „Das Emblem besteht aus einer blauen rechteckigen Fahne, die anderthalbmal so lang wie hoch ist. Zwölf in regelmässigen Abständen angeordnete goldene Sterne bilden einen nicht durch eine Linie sichtbar gemachten Kreis, dessen Mittelpunkt im Schnittpunkt der Diagonalen des Rechtecks liegt. Der Radius des Kreises entspricht einem Drittel der Fahnenhöhe. Jeder Stern hat fünf Spitzen, die auf einer unsichtbaren Kreislinie liegen, wobei der Radius dieses Kreises einem Achtzehntel der Fahnenhöhe entspricht. Alle Sterne stehen aufrecht, d.h. mit einer Spitze im rechten Winkel nach oben und zwei Spitzen auf einer Geraden rechtwinklig zur Fahnenstange. Die Sterne sind auf dem Kreis entsprechend den Stunden auf dem Zifferblatt einer Uhr angeordnet. Ihre Zahl ist unveränderlich. Das heraldische Blau entspricht einem hellen Ultramarinblau. Das heraldische Gold entspricht einem dunklen Chromgelb.“

Es war aber, wohlverstanden, die Fahne nur des Europarates. Noch 1958, an der Weltausstellung von Brüssel, hisste die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gegründet 1952, eine waagrecht schwarz-blau geteilte Fahne mit je drei goldenen Sternen in jedem Feld, und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sowie die Euratom, beide 1957 gegründet, führten überhaupt noch kein Emblem. Die im Juli 1959 in Paris zusammengerufene Kommission befand, dass die drei Gemeinschaften für Kohle und Stahl, für die Wirtschaft und für die Atomenergie zusammen ein eigenes Zeichen haben sollten, ein Kreis von sechs Sternen auf einem blauen Hintergrund wurde zuerst vorgeschlagen. In den weiteren Kommissionsverhandlungen tauchte die Frage auf, wie eine Europafahne rechtlich zu bewerten wäre, wenn zum Beispiel ein Schiff unter dieser Flagge fahren wollte. Das Europäische Parlament überwies das ganze Problem 1960 wiederum an eine Kommission, empfahl immerhin die zwölf goldenen Sterne, auf die sich der Europarat schon festgelegt hatte.

Zehn Jahre lang tat sich wenig oder nichts. Als zum Beispiel das Deutsche Fernsehen im Oktober 1961 Leute in Strassburg nach dem Sinngehalt der Europafahne befragte, hatte die Mehrheit der Strassburger diese Fahne noch gar nie gesehen. An der Weltausstellung von Osaka 1970 trat die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft noch unter einer Fahne mit sechs Sternen an. 1973 schuf sich das Europäische Parlament eine eigene Fahne: Die Buchstaben PE und EP im Zentrum eines Lorbeerkranzes, der später gegen den Sternenkranz ausgetauscht wurde. Noch einmal sollte im gleichen Jahr ein von der Kommission der Europäischen Gemeinschaft ausgeschriebener internationaler Wettbewerb das Problem einer Europafahne endgültig lösen. 6'300 Vorschläge wurden aus der ganzen Welt eingeschickt, die sieben Jurymitglieder, davon vier grafische Spezialisten, versanken in Arbeit und mussten die Anzahl der Preise von fünf auf zehn verdoppeln, ohne zu einer eindeutigen Empfehlung zu kommen. Noch immer war unklar, ob Europa (und dann welche Instanz?) überhaupt eine Flagge führen sollte; ein Segelschiff „Traité de Rome“, das mit einer aus den neun Mitgliedländern zusammengesetzten Mannschaft am Rennen um die Welt teilnahm, zeigte auf seiner Flagge einen Kreis aus neun menschlichen Figuren, die sich an den Händen hielten. An den Olympischen Spielen von 1980, so plante man, könnten die Athleten aus der Europäischen Gemeinschaft vielleicht unter dem Zeichen eines goldenen E auf blauem Grund einmarschieren, wie es in der Ausschreibung von 1973 als Entwurf eines Engländers australischen Ursprungs prämiert worden war.

Die bisherige Unsicherheit schwand, als im November 1979 das frisch gewählte Europäische Parlament, „entschlossen, der Europäischen Gemeinschaft ein Symbol zu geben, mit dem die europäischen Völker sich identifizieren könnten“, eine Kommission unter der Leitung von Kai-Uwe von Hassel mit einem Bericht über die ganze Fahnenproblematik beauftragte. Dieser Bericht formulierte das Problem insofern neu, als er die verschiedenen und verschieden gewachsenen europäischen Institutionen unter das Dach eines gemeinsamen Zeichens zusammenzuführen versprach, womit die ursprünglich vom Europarat angeregte Fahne auch für die politisch anders strukturierten Europäischen Gemeinschaften gelten sollte. Am 11. April 1983 wurde im Europäischen Parlament die Resolution von Hassel angenommen, damit bekam die vom Europarat 1955 verabschiedete Fahne Gültigkeit auch für die anderen Gemeinschaftsorganisationen, und vor allem sollten nicht mehr „verschiedene Embleme die Zusammengehörigkeit, die Solidarität und das Gefühl der Einheit“ stören. Es brauchte noch die Zustimmung des Europarates, seines Ministerrates, der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlamentes, des Ministerrates der Europäischen Gemeinschaften, des Europäischen Gerichtshofes, bis am 26. Mai 1986 in Brüssel die Europafahne als übergeordnetes Emblem für alle Institutionen der Europäischen Gemeinschaften (und später der Europäischen Union) offiziell eingeweiht werden konnte.

Seit dem 8. Dezember 1955 waren mehr als 30 Jahre vergangen, aber die blaue Fahne mit dem Kreis der zwölf Sterne hatte sich in dieser Zeit sanft verselbständigt und sich (dank Ortstafelbeschriftungen, Autokennzeichen und Werbedekorationen) fast unabhängig von den politischen Weichenstellungen beim Publikum durchgesetzt.

Wappen und Fahnen sind Symbole, Symbole müssen es sich gefallen lassen, erläutert und ausgedeutet zu werden. Ein Mann, dem die Problematik einer Europafahne mehr als jedem anderen nahe ging, schrieb im Januar 1969: „Niemand in Europa weiss, dass die vom Europarat eingeführte Europa-Flagge aus der Apokalypse stammt: der Kranz der zwölf Sterne.“ Dann zitierte er das zwölfte Kapitel der Offenbarung Johannis: „Ein grosses Zeichen erschien am Himmel, ein Weib, von der Sonne umkleidet. Unter ihren Füssen der Mond. Über ihrem Haupt ein Kranz von zwölf Sternen.“

Coudenhove-Kalergi, der Vater des Sonnenkreuzes, hatte sich in der „Weltwoche“ vom 17. Januar 1969 zum Wort gemeldet. Das Weib der Johannes-Offenbarung habe sich durch das Mittelalter zur Mutter Gottes mit dem Diadem der zwölf Sterne über ihrem Haupt gewandelt. Sein eigener Entwurf einer Europafahne mit dem Sonnenkreuz sei auf dem ersten Paneuropa-Kongress von 1926 vorgestellt und von zweitausend Teilnehmer akklamiert worden; beim Versuch Briands, 1929 im Rahmen des Völkerbundes die Paneuropa-Idee zu verwirklichen, hätte sie „von den Dächern aller Genfer Hotels“ geweht. Aber das Hakenkreuz habe das Sonnenkreuz verdrängt und sogar verfemt, erst nach dem Ende des Krieges sei es zum Symbol der Europäischen Parlamentarier-Union geworden, der die Gründung des Europarates zu verdanken sei.

Dann schilderte Coudenhove-Kalergi, wie die Europa-Bewegung von Duncan Sandys (ohne dessen Namen zu nennen) ihr eigenes Symbol mit dem grünen E auf weissem Grund schuf: „Diese Wahl war unglücklich. Denn das weisse Negativ dominierte über das grüne E. So entstand das Abbild einer weissen Unterhose, auf dem Hintergrund einer grünen Wiese.“ Nicht viel besser sei es dem vorgeschlagenen Emblem der acht im Kreis angeordneten verschlungenen Ringe ergangen, sie hätten wie die Wählscheibe eines Telefons ausgesehen.

Laut dem Artikel von Coudenhove-Kalergi favorisierte der Europarat in den sechziger Jahren nach dem Vorbild der USA Sterne als heraldische Zeichen, konnte sich aber vorerst über deren Anzahl nicht einig werden. Aber eine andere Geschichte beschäftigte Coudenhove-Kalergi mehr: „Damals wollte es der Zufall, dass der Generalsekretär des Europarates, der Chef der Informationsabteilung sowie der von der Versammlung gewählte Referent für die Flaggenfrage drei fromme Katholiken waren. Sie beschlossen, das zwölfsternige Diadem der Madonna zur Flagge des Europarates zu erheben und damit Europa stillschweigend unter den Schutz der Muttergottes zu stellen. Natürlich durfte niemand wissen, dass die künftige Fahne Europas religiösen Charakter tragen sollte. Sie handelten heimlich und glaubten, damit Europa zu dienen und zugleich ihrer Religion.“ Die Abstimmung in der Versammlung kommentierte er: „Alle anwesenden Protestanten, Juden, Mohammedaner, Atheisten, Sozialisten und Liberalen hatten ahnungslos für das Mariensymbol gestimmt. Sogar der Vertreter der türkischen Regierung, der sich so energisch gegen das Symbol des Kreuzes gewandt hatte.“

Carol Lager, die 1995 in einer kleinen Monographie die Entstehung der Europafahne schilderte, hält von dieser Interpretation durch Coudenhove-Kalergi nicht viel, ohne sie einfach abzulehnen. Markus Göldner, der 1988 ein gut dokumentiertes Buch über die politischen Symbole der europäischen Integration publizierte, tritt auf die Vermutungen Coudenhove-Kalergis gar nicht ein und legt so viele Akten vor, dass dessen Hypothesen unglaubwürdig werden.

Verschiedene Leute möchten es trotzdem nicht als Zufall betrachten, dass die Fahne mit den Sternen im Strahlenkranz 1955 gerade an einem 8. Dezember gewählt worden sei, also am Tag der Unbefleckten Empfängnis Marias (und nicht am 9. Dezember, wie ursprünglich vorgesehen). Arsène Heitz, der von französischer Seite als Schöpfer der Fahne mit dem Strahlenkranz der Sterne betrachtet wird, sei „inspiré de Dieu“ gewesen, und dann zitierte Carol Lager noch eine ganze Reihe von Artikeln aus der katholischen Presse Frankreichs, die der Europafahne den marianischen Charakter zu bestätigen schienen. Ihre Konklusion: „Wenn man weiss, dass die 15 Europarat-Mitgliedsländer nicht alle katholisch waren, dass es mehr als sechs Jahre Diskussionen brauchte und dass die schliessliche Entscheidung zufällig am 8. Dezember 1955 fiel, ist es normal, dass wir etwas Mühe mit der Annahme haben, die eurpäische Fahne sei auf die eine oder andere Weise religiös inspiriert. Es sind Zufälle, weiter nichts ...“

Die alte Schweiz vor 1798 kannte zwar schon das Kreuz als gemeinsames Zeichen, aber es wurde nicht demonstrativ verwendet. Diese Schweiz war ein Bündnissystem unter Kantonen, ihr Stolz galt den kantonalen Herrlichkeiten. Der erste gemeinsame Staat, die von den Franzosen befohlene Helvetische Republik, führte als nationales Emblem eine grün-rot-gelbe Kokarde und eine trikolore Fahne in den gleichen Farben. Der Bundesbrief, mit dem sich nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Systems die jetzt 22 Kantone der Schweiz zusammenschlossen, zeigte in seinem Siegel deutlich erkennbar ein Schweizerkreuz, aber es war noch nicht populär. Es stand eher neben als über den Kantonswappen. Nur langsam machte es seinen Weg auf militärischen Armbinden, später auf Truppen- und Vereinsfahnen; dann sah es sich adoptiert von der Politik des radikalen Freisinns. Die Truppen General Dufours dienten im Sonderbundskrieg von 1847 unter der roten Fahne mit dem weissen Kreuz; nach der Gründung des Bundesstaates von 1848 wurde das Schweizerkreuz das offizielle und gefeierte Emblem eines neuen Staates. So betrachtet dauerte es 50 Jahre, bis der Bundesstaat der Schweizerischen Eidgenossenschaft Flagge zeigen konnte. Seit den ersten Debatten im Europarat über ein europäisches Emblem dauerte es ebenfalls ein halbes Jahrhundert, bis das Europa-Wappen zum Beispiel auf Autonummern sichtbar wurde.

 
© 2004 Markus KutterNach Oben