Eine Sammlung von Beispielen im Sinn von
Fallstudien
Als Mitglied des Verfassungsrates des Kantons Basel-Stadt gehörte
ich auch der Kommission „Ingress und Grundrechte“ an. Besonders
interessierte mich das Problem, welche Funktion eine Präambel (ein
anderes Wort für Ingress) in einer Verfassung erfüllen sollte
und welche Rolle Präambeln in einer schweizerischen Kantonsverfassung überhaupt
spielen konnten. Dazu kamen überraschende Begehren sowohl von einzelnen
Parteien wie stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürgern, es
sollte in der Präambel zur Kantonsverfassung auch eine Anrufung
Gottes (invocatio Dei) aufgenommen werden.
Ich versuchte mir zuerst einmal einen Überblick zu verschaffen,
indem ich vor allem aus schweizerischen Verfassungen und Verfassungsentwürfen
Präambeln zusammentrug, um sie nachher den Kolleginnen und Kollegen
in der Kommission und im Ratsplenum vorzulegen. Das ergab so etwas wie
Spielmaterial oder eine Kollektion von Musterbeispielen, die durch knappe
Kommentare zu Fallstudien werden. In der Literatur ist mir eine solche Übersicht über
verschiedene Grundtypen von Präambeln nicht bekannt, so dass ich
diese Sammlung von Beispielen in mein Wortlager übernehme.
1. Geschworener Brief von Zürich vom 16. Dezember 1713
Es ist das keine Verfassung im modernen Sinn, weil sie vor Rousseaus
contrat social, den amerikanischen Verfassungen und denjenigen des revolutionären
Frankreichs von 1792 und 1793 liegt. Die invocatio Dei begründet
sich dadurch, dass zum Anfang des 18. Jahrhunderts in den verschiedenen
Ständen der Schweiz Kirche und Staat noch nicht getrennt waren,
sondern sich vielfach überlappten, etwa in der Rechtsprechung.
Absicht dieses Briefes ist es, die eigentliche Souveränität,
also die oberste Machtbefugnis, im Geist des ancien régime zu
definieren und auf die verschiedenen Träger aufzuteilen. An erster
Stelle stehen die Bürgermeister, dann folgt der (kleine) Rat, dann
die Zunftmeister, der Grosse Rat und erst am Schluss die ganze Gemeinde.
Diese steht an letzter Stelle, was dann bedeutet, dass die (häufig
auf Lebenszeit) gewählten Amtsträger eine höhere Souveränität
beanspruchen. Man kann geradezu von einem republikanischen Absolutismus
sprechen, weil die Stadt Zürich sich auch als Herrscher über
die anderen Städte und Dörfer im alten Stand Zürich betrachtet.
1691 findet in Basel eine revolutionäre Bewegung statt, bei der
es ebenfalls darum geht, bei welcher Instanz die eigentliche Souveränität
liegen soll. Das sogenannte 91er Wesen führt dazu, dass sich der
Grosse Rat zum eigentlichen Inhaber der Souveränität aufschwingt,
das Familienregiment der Bürgermeister aushebelt und sich die Kompetenz
gibt, das Fundamentalgesetz des Standes Basel jederzeit ändern zu
können.
Präambel:
In dem Namen der Allerheiligsten Hochgelobten Dreyeinigkeit, Gottes
des Vaters, des Sohns, und des heiligen Geistes. Amen!
Wir, der Burgermeister, der Raht, die Zunftmeister, der Grosse Raht,
und die ganze Gemeind der Stadt Zürich, thun kund allermänniglich
und bekennen offentlich mit dieserem Brief, nachdeme Wir von Gottes Gnaden
Loblich gefreyet sind, Unserer Stadt Ordnung und Regiment, wie es Uns
je zu Zeiten nutzlich und nohtdürftig seyn bedunket, zu ordnen und
zu setzen, dass Wir aus Kraft dessen, zu Nutz und Nohtdurft, auch um
Friden, Schirms, Ruh und Wohlstands willen, Reicher und Armer, wie Uns
Gott zusamen geordnet hat, Unserer Stadt Gewalt, Burgermeister, Räht
und Zunftmeister zu setzen, zu erkiesen, und zu erwehlen, auch Unsere
ganze Gemeind zu versorgen und zu regieren, solche Satz- und Ordnungen
(selbige fürbashin zu halten) gemachet haben, wie hiernach in dieserm
Brief von einem Stuck zu dem anderen klar und eigentlich geschrieben
stehet.
2. Plan einer provisorischen Verfassung für die Helvetische Republik
Der Verfasser dieses Textes ist der Basler Oberstzunftmeister Peter
Ochs, geschrieben hat er ihn im Januar 1798 in Paris. Das Dokument kennt
keine Präambel, sondern zwei vorgeschaltete Kapitel, das eine als
Avant-propos, das andere als Principes fondamentaux bezeichnet. Das Avant-propos
erläutert, auf welche Weise der Verfassungsentwurf umgesetzt werden
soll; die Principes fondamentaux übernimmt Prinzipien aus der Erklärung
der Menschenrechte von 1789 und bringt staatsphilosophische Maximen,
die Peter Ochs wichtig waren. Zugleich figurieren in diesem Text einzelne
Abschnitte, etwa über Meinungs-, Glaubens- und Pressefreiheit, die
nach heutigem Verständnis in einer Verfassung eigene Artikel verdienen.
Sowohl das Avant-propos wie auch Teile der Principes fondamentaux haben
die Machthaber in Paris aus dem Manuskript gestrichen oder zu eigentlichen
Verfassungsartikeln umgearbeitet.
Avant-propos:
Ce plan de Constitution pour la République helvétique
n’est que provisoire. Il s’agit seulement de détruire
l’Aristocratie, et d’établir un regime représentatif
quelconque qui ait assez de force pour pouvoir reprimer les Malveillans
de toute espèce.
3. Verfassung der helvetischen Republik
Es handelt sich um den Text, den das französische Direktorium in
Paris dreisprachig drucken liess und nachher in der Schweiz verteilte.
Aus dem Entwurf von Ochs wurden die Principes fondamentaux als Haupt-Grundsätze
teilweise übernommen, aber von einer eigentlichen Präambel
oder gar einer invocatio Dei ist nicht die Rede.
Artikel 1 gilt dem Staatsverständnis dieser neuen Republik; Artikel
2 macht – im Unterschied zum Geschworenen Brief von Zürich
1713 – klar, wer jetzt, in der Zeit nach Rousseau und der Französischen
Revolution, als eigentlicher Souverän zu gelten hat. Beide Artikel
wurden aus dem Manuskript von Peter Ochs übernommen.
Haupt-Grundsätze:
1. Die helvetische Republik macht einen unzertheilbaren Staat aus.
Es giebt keine Grenzen mehr zwischen den Cantonen und den unterworfenen
Landen noch zwischen einem Canton und dem andern. Die Einheit des Vaterlandes
und des allgemeinen Interesse’s vertritt künftig das schwache
Band, welches verschiedenartige, ausser Verhältnis ungleich grosse,
und kleinlichen Localitäten oder einheimischen Vorurtheilen unterworfene
Theile zusammenhielt und auf Gerathewohl leitet. Man verspürte nur
die ganze Schwäche einzelner Theile; man wird aber durch die vereinigte
Stärke Aller stark sein.
2. Die Gesamtheit der Bürger ist der Souverän oder Oberherrscher.
Kein Theil und kein einzelnes Recht der Oberherrschaft kann vom Ganzen
abgerissen werden, um das Eigenthum eines Einzelnen zu werden.
Die Regierungsform, wenn es auch sollte verändert werden, soll
allezeit eine repräsentative Demokratie sein.
4. Mediationsverfassung vom 19. Februar 1803
Was noch heute in der Schweiz schlecht rezipiert oder gar nicht bekannt
ist: Napoleon Bonaparte darf als der eigentliche Vater der schweizerischen
Kantonsverfassungen gelten. Der Einheitsstaat der Helvetischen Republik
funktionierte nicht, auch wenn ihn Napoleon ursprünglich befürwortet
hatte, also entschied er, dass die Schweiz wieder zu einem Staatenbund
möglichst souveräner Kantone zurückgeführt werden
müsse. Politisch verfolgte er damit zwei Ziele: Auf der einen Seite
sollten die früheren Untertanenländer St. Gallen, Aargau, Thurgau,
Tessin, Waadt, zusammen mit dem neu zur Eidgenossenschaft stossenden
Graubünden, als gleichberechtigte Kantone anerkannt werden, auf
der anderen Seite rechnete Napoleon damit, dass die Eifersucht unter
den Kantonen dafür sorgen würde, dass die Schweiz aussenpolitisch
praktisch handlungsunfähig blieb.
Die von Napoleon eingesetzte Kommission von fünf Senatoren bekam
den Auftrag, mit den Delegierten der Kantone – total um die 60
Personen – jede einzelne Kantonsverfassung auszuhandeln und aufzuschreiben.
Für die Landsgemeindeorte war das ungewöhnlich, da die Art
und Weise, wie die Angelegenheiten eines Standes durch die Landsgemeinde
geordnet waren, mehr auf mündlicher Überlieferung als auf schriftlich
fixierten Prinzipien beruhte.
Die ganze Mediationsakte besteht aus einer sehr langen Präambel,
dann folgen 19 einzelne Kantonsverfassungen ohne jede Präambel und
natürlich auch ohne invocatio Dei, den Schluss macht die eigentliche
Bundesverfassung, die in erster Linie das Militärwesen regeln möchte
und zwar wieder ohne Präambel.
Aus der Präambel:
Helvetien, der Zwietracht preisgegeben, war mit seiner Auflösung
bedroht. In sich selbst konnte es die Mittel nicht finden, um wieder
zu einer verfassungsmässigen Ordnung zu gelangen. (...) Die Beantwortung
der Frage: Ob die Schweiz, von der Natur selbst zu einem Bundesstaate
bestimmt, anders als durch Gewalt unter einer Central-Regierung erhalten
werden könnte; die Ausfindigmachung derjenigen Verfassungsform,
die mit den Wünschen jedes Kantons am meisten übereinstimmte;
die Heraushebung dessen, was den in den neuen Kantonen entstandenen Begriffen
von Freiheit und Wohlfahrt am besten entspräche; endlich dann in
den alten Kantonen die Vereinbarung derjenigen Einrichtungen, die durch
die Zeit ehrwürdig geworden waren, mit den wiederhergestellten Rechten
des Volks: Dies waren die Gegenstände, die der Untersuchung und
Berathschlagung unterworfen werden mussten.
Aus dem Nachtrag:
Die gegenwärtige Acte, als das Resultat einer langen Erörterung
zwischen klugen und wohlgesinnten Männern, schien uns die angemessensten
Verfügungen für die Herstellung des Friedens und die Gründung
der öffentlichen Wohlfahrt in der Schweiz zu enthalten. (...) Wir
erkennen Helvetien, nach der in der gegenwärtigen Acte aufgestellten
Verfassung, als eine unabhängige Macht. Wir garantieren die Bundesverfassung
und die eines jeden Kantons gegen alle Feinde Helvetiens, wer immer sie
auch sein mögen...
5. Bundesvertrag vom 7. August 1815
Nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Machtsystems wollten die
Kantone möglichst rasch (auch auf Druck der Alliierten) ihre Verfassungen ändern.
Zum Teil bestand in den alten Kantonen auch die Absicht, die letztmals
von Napoleon sanktionierten Kantonsverfassungen wieder mehr vorrevolutionären
Zuständen anzunähern, also zum Beispiel die Suprematie der
Städte über die Landschaften wieder herzustellen.
Mit dem Kanton Waadt war nun einer der neuen Kantone französisch
sprechend; der Bundesvertrag von 1815 musste also mindestens zweisprachig
sein.
Wo es in den vorrevolutionären Urkunden meistens ganz einfach in
nomine Domini oder Dei hiess, galt es jetzt eine Formulierung zu finden,
die auf deutsch und französisch gleichwertig erschien. Au nom de
Dieu konnte nicht gut als invocatio Dei gelten, weil eine solche Formulierung
gefährlich nahe bei einem Fluch lag. Also wählte der französische
Redaktor eine Wendung, die sich nachher auf Deutsch ohne Schwierigkeit übersetzen
liess.
Mit dem Bundesvertrag von 1815 bekommt eine bundesstaatliche Urkunde
erstmals eine invocatio Dei.
Präambel:
Im Namen Gottes des Allmächtigen! Au nom du Tout-Puissant!
Sehr bewusst wurde in diesem Bundesvertrag auch der alte Begriff „eidgenössisch“ aufgenommen,
der zur Zeit der Helvetik etwas ausser Kurs gesetzt schien. Der Begriff
war wörtlich zu nehmen: die Eidgenossen sollten sich untereinander
auf der Basis von Eiden verbünden. Man kann es auch so sehen: Der
invocatio Dei am Anfang entsprach am Schluss der geleistete Eid. Der
Bundesvertrag vom 7. August 1815 enthielt deshalb einen abschliessenden
Text:
Nachtrag:
Die XXII Kantone konstituieren sich als schweizerische Eidsgenossenschaft;
sie erklären, dass sie frei und ungezwungen in diesen Bund treten,
denselben im Glück wie im Unglück als Brüder und Eidsgenossen
getreulich halten, insonders aber, dass sie von nun an alle daraus entstehenden
Pflichten und Verbindlichkeiten gegenseitig erfüllen wollen; und
damit eine für das Wohl des gesammten Vaterlandes so wichtige Handlung,
nach der Sitte der Väter, eine heilige Gewährschaft erhalte,
so ist diese Bundesurkunde nicht allein durch die bevollmächtigten
Gesandten eines jeden Standes unterzeichnet und mit dem neuen Bundes-Insiegel
versehen, sondern noch durch einen theuren Eid zu Gott dem Allmächtigen
feierlich bekräftiget worden.
6. Verfassung des Standes Uri vom 7. Mai 1820
Dass auf Wunsch Napoleons auch die Landsgemeindekantone eine geschriebene
Verfassung haben mussten, war den Urnern 17 Jahre nach 1803 immer noch
ungewohnt. Aber sie hatten sich damit abgefunden, da offenbar jeder Kanton
bei der Tagsatzung seine Verfassung deponieren musste. Eine invocatio
Dei in der Kantonsverfassung hingegen erschien so gut wie allen Kantonen
als unnötig, weil der Bundesvertrag das schon geregelt hatte. Hingegen
sollte (in der Urner Verfassung) der Schutz des Allerhöchsten angerufen
werden.
Präambel:
Wir Landammann und Rath und gemeine Landleute des gemein-eidsgenössischen
Kantons Uri in der Schweiz – in Folge der Bestimmung des § 15
des Bundesvertrags, dass die Verfassungen der hohen Stände der hohen
Tagsatzung eingegeben und in das eidsgenössische Archiv abgelegt
werden sollen – erklären hiemit:
Dass wir zwar nie eine in Urkund geschriebene Verfassung unsers Kantons
gehabt haben, dass aber durch Jahrhundert lange Übung und bestehende
Gesetze dieselbe auf folgenden Grundsätzen beruht, die wir unter
dem Schutze des Allerhöchsten unsern Nachkommen unverändert übertragen
wollen.
7. Entwurf einer Bundesurkunde vom 5. Dezember 1832
Der Name Bundesurkunde war absichtlich gewählt, weil er mehr
als einen blossen Vertrag bedeuten sollte, aber noch nicht als Verfassung
auftreten durfte, weil eine solche noch immer emotional mit der Helvetischen
Republik verbunden war.
Das Datum 1832 zeigt, dass dieser Entwurf mit den Auswirkungen der
Juli-Revolution in Paris im Zusammenhang stand; zum ersten Mal wurde
versucht, aus dem
sehr lockeren Staatenbund von 1815 ein festgefügteres Staatswesen
zu machen.
Die invocatio Dei aus dem Vertrag von 1815 wurde schon fast als selbstverständlich übernommen,
daneben wurde das übergeordnete Ziel der näheren Verbindung
der Kantone umschrieben.
Präambel:
Im Namen Gottes des Allmächtigen! Die 22 souveränen Kantone
der Schweiz, als (folgt Aufzählung), vom Wunsche beseelt, den Bund
der Eidgenossen zu befestigen und durch seine zeitgemässe Entwiklung
des Vaterlandes Kraft und Ehre zu erhalten und zu fördern, haben
den Bundesvertrag vom 7. August 1815 einer allgemeinen Revision unterworfen
und in Folge derselben nachstehende Bundesurkunde als Grundgesez angenommen:
8. Kantonsverfassung Wallis vom 14. September 1844
Das erste und im 19. Jahrhundert einzige Mal, dass eine invocatio Dei
in einer Kantonsverfassung auftritt, ist der Fall des Kantons Wallis.
Sie ist ein Ausdruck der konservativen Gegenbewegung gegen die liberalen
Ideen kurz vor Ausbruch des Sonderbundskrieges von 1847.
Die Anrufung Gottes muss man in Verbindung mit Artikel 2 dieser Verfassung
sehen, wonach die römisch katholische und apostolische Kirche ganz
offiziell zur Staatsreligion erklärt wird, nur sie darf ihren Kult
ausüben und soll durch Gesetze gestützt werden.
Präambel:
Au nom de Dieu tout-puissant.
9. Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September
1848
Diese die ganze Schweiz betreffende Verfassung ist nach derjenigen
der Helvetischen Republik die zweite, die gleichermassen für das
ganze Land gilt und aus dem bisherigen Staatenbund einen Bundesstaat
macht.
Sie sieht sich aber in einer schon etablierten Tradition, die 1815
beginnt und 1832 gestärkt wird.
Diese Tradition manifestiert sich auch darin, dass für den Gesamtbund
die invocatio Dei beibehalten wird und dass die Präambel sich im
Wortlaut an den Präambelentwurf von 1832 anschliesst. Der Bezug
auf Einheit, Kraft und Ehre der Eidgenossenschaft ist eine Fortführung
dieser Präambel, hat aber durch den soeben beendeten Sonderbundskrieg
eine gewisse Zuspitzung erfahren: Die Einheit des Landes, das konfessionell
zerstritten war, soll wieder hergestellt werden, die Berufung auf die
Kraft meint auch die im Bürgerkrieg siegreichen Truppen der Tagsatzungmehrheit,
und die Ehre der Nation gilt es gegenüber den die Schweiz umgebenden
Monarchien zu wahren.
Die Schweiz kennt, anders als die übrigen europäischen Nationen,
kein Revolutionsjahr 1848, sondern macht aus diesen Bewegungen das Gründungsjahr
für den eidgenössischen Bundesstaat – die einzige föderative
Republik im damaligen Europa der Monarchien (auch Frankreich gerät
auf den Weg zu einem Kaiserreich).
Präambel:
Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Die schweizerische Eidgenossenschaft, in der Absicht, den Bund der Eidgenossen
zu befestigen, die Einheit, Kraft und Ehre der schweizerischen Nation
zu erhalten und zu fördern, hat nachstehende Bundesverfassung angenommen:
10. Internationale Präambeln der Nachkriegszeit
Das Ende des Zweiten Weltkrieges war der Anfang für eine heute
fast ins Uferlose gewachsene Serie von internationalen Konventionen oder Übereinkommen,
die, falls ihnen die Schweiz beitrat (was häufig der Fall war),
auch für die Kantone als Teilstaaten bindend und in einem ganz allgemeinen
Sinn für Schweizerischen und Schweizer verpflichtend sind.
Meistens beginnen solche Übereinkommen mit einer Präambel,
die sich mit den übergeordneten Absichten und Zielsetzungen der
einzelnen Konvention befasst. In einem engeren Sinn geht es aber auch
darum, das Übereinkommen an den richtigen Platz im internationalen
Vertragswerk zu rücken und es sinngemäss einzuordnen. Man darf
zu Recht davon sprechen, dass in der Nachkriegszeit und also in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts ein deutlich zunehmendes Bewusstsein
der internationalen und sogar weltweiten Vernetzung entstand. Dieses
Bewusstsein sucht auch nach der Sprache, in der es sich ausdrücken
wollte. Das wichtigste Vorbild dabei ist nach wie vor die Deklaration
der Menschenrechte aus der Französischen Revolution von 1789.
Mit dem Blick auf schweizerische Verhältnisse ist vielleicht überraschend,
dass bei kantonalen Verfassungsrevisionen eine solche Einpassung in eine
grössere Verfassungsarchitektur selten bedacht wird; selbst Bezüge
auf die den Kantonsverfassungen eindeutig übergeordnete Bundesverfassung
sind nicht häufig. Die Art der verwendeten Sprache suggeriert Staatswesen,
die sich in völliger Souveränität und Unabhängigkeit
sozusagen allein auf der Welt zu befinden scheinen. Dass der Föderalismus
der Kantone häufig nur noch darin besteht, Erfüllungsgehilfen
für Bundesaufgaben zu sein, kommt in den revidierten Kantonsverfassungen
der letzten Generation kaum zum Ausdruck.
Wie solche Einbindungen in übergeordnete europäische Zusammenhänge
formuliert werden, zeigt der erste Teil einer Präambel für
eine internationale Konvention.
Aus der Präambel des Übereinkommens über Menschenrechte
und Biomedizin vom 4. April 1997:
Die Mitgliedstaaten des Europarats, die anderen Staaten und die Europäische
Gemeinschaft, die dieses Übereinkommen unterzeichnen,
eingedenk der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.
Dezember 1948 verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte;
eingedenk der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten;
eingedenk der Europäischen Sozialcharta vom 18. Oktober 1961;
eingedenk des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische
Rechte und des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Rechte vom 16. Dezember 1966;
eingedenk des Übereinkommens vom 28. Januar 1981 zum Schutz des
Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten;
eingedenk auch des Übereinkommens vom 20. November 1989 über
die Rechte des Kindes;
in der Erwägung, dass es das Ziel des Europarats ist, eine engere
Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herbeizuführen, und dass
eines der Mittel zur Erreichung dieses Zieles darin besteht, die Menschenrechte
und Grundfreiheiten zu wahren und fortzuentwickeln...
11. Die Revisionsbemühungen 100 Jahre nach 1874
Die letztmals revidierte Bundesverfassung der Schweiz stammt von
1874, bei der die Präambel von 1848 erhalten blieb. Im 20. Jahrhundert
zeigte sich mehr und mehr die Notwendigkeit einer Gesamtrevision der
Bundesverfassung. Zu diesem Zweck berief der Bundesrat unter der Leitung
von Kurt Furgler eine eigene Kommission, die sich mit dieser Verfassungsrevision
beschäftigen und sie vorbereiten sollte, weil man das Jubiläum
der 100 Jahre alten Bundesverfassung mit einer frisch revidierten feiern
wollte.
In diese Kommission wurde als Schriftsteller Adolf Muschg berufen,
der sich besonders auch der Präambel annehmen sollte. Er versuchte das
Problem grundsätzlich anzugehen, stellte sich also die Frage, was
die Präambel für eine neue Bundesverfassung in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt aussagen sollte.
Sein Entwurf von 1977 brachte vier Ideen, die in den bisherigen Präambeln
nicht enthalten waren: Frei bleibt nur, wer seine Freiheit gebraucht;
ein Volk ist dann stark, wenn es auf das Wohl der Schwachen achtet; staatliche
Macht hat eine Grenze, und wir sind aufgerufen, am Frieden der Welt mitzuwirken.
In der alten Tradition von 1815 blieb die invocatio Dei erhalten.
Praämbel-Entwurf der Kommission Furgler:
Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Im Willen, den Bund der Eigenossen zu erneuern;
gewiss, dass frei nur bleibe, wer seine Freiheit gebraucht,
und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl des Schwachen;
eingedenk der Grenzen der staatlichen Macht und der Pflicht, mitzuwirken
am Frieden der Welt,
haben Volk und Kantone der Schweiz die folgende Verfassung beschlossen:
12. Kommentar von Adolf Muschg zur Präambel von 1977
Ich bat Adolf Muschg 25 Jahre später um einen persönlichen
Kommentar zu seinem Präambel-Entwurf, was er mit einem an mich gerichteten
e-mail vom 25. Oktober 2002 tat. Mich interessierte vor allem, wie er
sich zur invocatio Dei dieses von der Kommission Furgler abgesegneten
Entwurfes stellte.
Kommentar:
Ja, ich muss mich der Präambel schuldig bekennen, auch wenn sie
in der geltenden BV nicht wiederzuerkennen ist, kleingehackt und mit
gutgemeintem Treudeutsch verschnitten. Sie war damals das Produkt einer
febrilen Auszeit von der Kommission, die ich im Hotel Cucagna (gleich
Schlaraffenland) zu Disentis nehmen musste. Und ein Versuch, der Anrufung „Gottes
des Allmächtigen“, der ich umsonst widerstrebt hatte, so etwas
wie einen säkularisierten Kommentar anzuhängen (ein Restchen
Bergpredigt hält sich immer noch darin). Also im Kern eine halbe
Sache, da hat der Teufel den Schwanz darauf, und sie verdienen nicht
gut auszugehen. Was übrigens die Gottesanrufung betrifft, so wird
Sie die damalige Mehrheit zu deren Gunsten nicht überraschen: sie
bestand aus wertkonservativen Katholiken und religiös Gut-, aber
Gleichmütigen, die nichts Anstössiges in ihr fanden, während
die paar dezidierten Protestanten geradezu eine Blasphemie darin sahen,
Gott für unser Menschenwerk in Anspruch zu nehmen: aber ihre unheilige
Koalition mit ebenso gläubigen Atheisten erwies sich dann nicht
als stark genug. Die Mehrheit fand – auch wenn sie es nicht gerade
so ausdrückte –: da Gott schon einmal in der Verfassung stehe,
lasse man ihn doch lieber drin und wecke dann keine schlafenden Hunde. – Ihr
Plädoyer für einen Bundesgott, dem sich die Kantone doch müssten
anschliessen können, statt ihn für sich nochmals extra zu beschäftigen,
finde ich so humoristisch wie überzeugend. Aber Sie werden sich
seinen Segen nicht nehmen lassen.
12. Präambeln in revidierten Kantonsverfassungen
Die Revisionsarbeiten der Kommission Furgler brachten im erhofften
Termin keine verbindlichen Resultate. Sie wurden aber durch die Presse
einer
breiten Öffentlichkeit bekannt. Einzelne Kantone, die sich mit den
Totalrevisionen ihrer Verfassungen beschäftigten, sahen sich durch
die Tätigkeit dieser Kommission angeregt, so dass – im Unterschied
etwa zur napoleonischen Zeit – plötzlich Präambeln in
Kantonsverfssungen attraktiv und reizvoll schienen. Solche Präambeln
versprachen die Möglichkeit, über den Sinn und Geist von Kantonsverfassungen
etwas Übergeordnetes aussagen zu können; die Formulierungen
der Kommission Furgler boten so etwas wie staatsphilosophisches Spielmaterial,
aus dem regierungsrätliche oder grossrätliche Kommissionen
oder eigentliche Verfassungsräte rhetorische Varianten bilden konnten.
Vom Sprachmaterial her gesehen sind die Präambeln in den nach 1980
revidierten Kantonsverfassungen Abwandlungen der Formulierungen aus der
Kommission Furgler. Plötzlich schien es auch verlockend, auf der
Ebene von Kantonsverfassungen eine invocatio Dei ins Spiel zu bringen.
Auf eine direkte Anrufung Gottes wurde allerdings meistens verzichtet,
an deren Stelle trat lieber die Formulierung einer Verantwortung vor
Gott, gelegentlich auch vor der Schöpfung, und neu war, dass in
den Präambeln plötzlich ökologische Gesichtspunkte auftraten,
das heisst dass die Verantwortung vor Gott für Mensch und Natur
gelten sollte.
Kanton Aargau vom 25. Juni 1980:
Das Aargauer Volk,
in der Absicht,
die Verantwortung vor Gott gegenüber Mensch, Gemeinschaft und Umwelt
wahrzunehmen,
den Kanton in seiner Einheit und Vielfalt zu gestalten,
Freiheit und Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu schützen,
die Wohlfahrt aller zu fördern,
die Entfaltung des Menschen als Individuum und als Glied der Gemeinschaft
zu erleichtern,
den Stand zu einer aktiven Mitarbeit an der Festigung und am Ausbau der
Schweizerischen Eidgenossenschaft zu verpflichten,
gibt sich nachstehende Verfassung:
Kanton Basel-Landschaft vom 17. Mai 1984:
Das Baselbieter Volk,
eingedenk seiner Verantwortung vor Gott für Mensch, Gemeinschaft
und Umwelt,
im Willen, Freiheit und Recht im Rahmen seiner demokratischen Tradition
und Ordnung zu schützen,
gewiss, dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohle der Schwachen,
in der Absicht, die Entfaltung des Menschen als Individuum und als Glied
der Gemeinschaft zu erleichtern,
entschlossen, den Kanton als souveränen Stand in der Eidgenossenschaft
zu festigen und ihn in seiner Vielfalt zu erhalten, gibt sich folgende
Verfassung:
Kanton Solothurn vom 8. Juni 1986:
Das Volk des Kantons Solothurn,
im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott für Mensch, Gemeinschaft
und Umwelt, mit dem Ziel,
den Kanton in seiner kulturellen und regionalen Vielfalt zu erhalten
und als Stand in der Eidgenossenschaft zu festigen,
Freiheit und Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu schützen,
den Frieden im Innern und den Zusammenhang des Volkes zu wahren,
die Wohlfahrt aller zu fördern,
eine Gesellschaftsordnung anzustreben, die der Entfaltung und der sozialen
Sicherheit des Menschen dient,
gibt sich folgende Verfassung:
Kanton Bern vom 6. Juli 1993:
In der Absicht, Freiheit und Recht zu schützen
und ein Gemeinwesen zu gestalten,
in dem alle in Verantwortung gegenüber der Schöpfung zusammen
leben,
gibt sich das Volk des Kantons Bern folgende Verfassung:
Kanton St. Gallen, Entwurf der Verfassungskommission vom 17. Dezember
1999:
Im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott für die menschliche
Gemeinschaft und die gesamte Schöpfung wollen wir St. Gallerinnen
und St. Galler
unser geschichtlich gewachsenes Staatswesen in Freiheit und Recht gestalten;
uns für das Wohl der Einzelnen und der Gemeinschaft in Solidarität
und Toleranz einsetzen;
an der Bewahrung des Friedens mitwirken.
Im Wissen um die Grenzen aller staatlichen Macht geben wir uns die folgende
Verfassung:
Kanton Schaffhausen vom 17. Juni 2002:
In Verantwortung vor Gott für Mensch und Natur gibt sich das Volk
des Kantons Schaffhausen folgende Verfassung:
Kanton Graubünden von 2003:
Wir, das Volk des Kantons Graubünden,
im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott sowie gegenüber den
Mitmenschen und der Natur,
im Bestreben, Freiheit, Frieden und Menschenwürde zu schützen,
Demokratie und Rechtsstaat zu gewährleisten, Wohlfahrt und soziale
Gerechtigkeit zu fördern und eine gesunde Umwelt für die künftigen
Generationen zu erhalten,
in der Absicht, die Dreisprachigkeit und kulturelle Vielfalt zu fördern
und als Teil des geschichtlichen Erbes zu bewahren,
geben uns folgende Verfassung:
13. Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 23. Mai 1993
Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems in der Sowjetunion
und in Osteuropa, in dessen Gefolge die Wiedervereinigung Deutschlands
möglich
wurde, liess eine grosse Anzahl neuer nationaler Verfassungen und deutscher
Länderverfassungen entstehen. In der ehemaligen DDR gaben sich viele
Menschen Rechenschaft, zuerst unter der nationalsozialistischen, dann
einer kommunistischen Diktatur gelebt zu haben. Darüber hinweg konnte
nicht einfach zur Tagesordnung geschritten werden.
Wie das in einem übergeordneten Sinn in der Verfassung für
ein neu konstituiertes deutsches Bundesland zum Ausdruck kam, lässt
sich in der Präambel des Landes Mecklenburg-Vorpommern nachlesen.
Auf der einen Seite wird Bezug auf die deutsche Geschichte genommen,
auf der anderen Seite steht das Bekenntnis zur europäischen Völkergemeinschaft.
Solche Überlegungen sind den neu revidierten Kantonsverfassungen
in der Schweiz eher fremd, allerdings aus natürlichen Gründen:
Nicht ein welthistorischer Bruch kennzeichnet die Existenz der schweizerischen
Kantone, sondern deren erstaunliche Kontinuität seit 200 Jahren.
Präambel:
Im Bewusstsein der Verantwortung aus der deutschen Geschichte sowie
gegenüber den zukünftigen Generationen,
erfüllt von dem Willen, die Würde und Freiheit des Menschen
zu sichern, dem inneren und äusseren Frieden zu dienen, ein sozialgerechtes
Gemeinwesen zu schaffen, den wirtschaftlichen Fortschritt aller zu fördern,
die Schwachen zu schützen und die natürlichen Grundlagen des
Lebens zu sichern,
entschlossen, ein lebendiges, eigenständiges und gleichberechtigtes
Glied der Bundesrepublik Deutschland in der europäischen Völkergemeinschaft
zu sein,
im Wissen um die Grenzen menschlichen Tuns,
haben sich die Bürger Mecklenburg-Vorpommerns auf der Grundlage
des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland in freier Selbstbestimmung
diese Landesverfassung gegeben.
14. Bundesverfassung von 1999
Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 kam 25 Jahre später
als erhofft. Ein neuer Staatsentwurf oder eine neue nationale Regierungsorganisation
stand kaum zur Debatte, die eidgenössische Räte einigten sich
darauf, dass die bisherige Verfassung sanft adaptiert und mit dem Blick
auf die neusten Entwicklungen fortgeschrieben werden sollte.
Das traf natürlich auch auf die Präambel zu, die in der
Tradition von 1815, 1832, 1848, 1874 begriffen wurde.
Präambel:
Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Das Schweizer Volk und die Kantone,
in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,
im Bestreben den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit
und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt
zu stärken,
im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt
in der Einheit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung
gegenüber den künftigen Generationen,
gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die
Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, geben sich folgende
Verfassung:
15. Vorentwurf des Justizdepartementes Basel-Stadt für eine Kantonsverfassung
von 1999
Dieser Vorentwurf für eine Verfassung des Kantons Basel-Stadt
beginnt das Kapitel mit den allgemeinen Bestimmungen mit einem Absatz
1:
Der Kanton Basel-Stadt ist ein souveräner Stand der Schweizerischen
Eidgenossenschaft.
Als Variante wird ein zusätzlicher Absatz 2 vorgeschlagen: Falls – in
baselstädtischem Traditionsanschluss – auf eine Präambel,
welche auf diese Zwecke Bezug nimmt, verzichtet wird, würde der
2. Absatz lauten:
Er hat zum Zweck,
den Menschen eine Entfaltung in Freiheit und sozialer Sicherheit zu ermöglichen,
den Frieden im Innern und den Zusammenhang des Volkes zu wahren,
die kulturelle Vielfalt zu erhalten,
die gemeinsame Wohlfahrt zu fördern,
das Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu schützen,
die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten.
Eine invocatio Dei ist in diesem Entwurf des Justizdepartementes
nicht enthalten; auf eine Präambel wird ausdrücklich verzichtet.
Eine Präambel kennt auch der von den parteipolitisch unabhängigen
Autoren Dieter Chenaux-Repond und Conradin Cramer geschriebene Verfassungsentwurf
vom August 2000 nicht (der im Verfassungsrat erstaunlicherweise nie ernsthaft
beachtet wurde).
16. Erste Konklusionen
Es gibt keine etablierte Tradition, nach der Kantonsverfassungen
eine Präambel haben müssen. Eher ist eine Tradition darin zu sehen,
dass Kantonsverfassungen seit 1803 und bis ins 20. Jahrhundert fast durchgehend
auf Präambeln verzichten.
Es gibt erst recht keine etablierte Tradition, nach der Kantonsverfassungen
mit einer Anrufung Gottes beginnen oder Gott direkt erwähnen sollten.
Das Bedürfnis danach ist eigentlich erst in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts und dann besonders nach 1977 entstanden.
Weitgehend vergessen ist die noch im Bundesvertrag von 1815 angedeutete
Relation zwischen der invocatio Dei und dem tatsächlich zu leistenden
Bundesschwur, der dieser Anrufung Gottes in der Präambel eine zusätzliche
Bedeutung gibt.
Wer für eine Verfassung eine invocatio Dei fordert, möchte
sich durch diese Anrufung Gottes verpflichtet sehen. Nachdem in der Bundesverfassung
der Schweiz eine solche invocatio Dei zu finden ist, erklären sich
die Leute, die auch in der Präambel einer Kantonsverfassung Gott
nennen möchten, durch die Bundesverfassung nicht ausreichend verpflichtet,
was geradezu als ein Zeichen mangelnder Frömmigkeit verstanden werden
könnte.
Erstaunlicherweise sind die Bezüge der meisten Kantonsverfassungen
zur übergeordneten Bundesverfassung eher spärlich; nach meinem
Wissen kümmert sich keine neue Kantonsverfassung um internationale Übereinkommen,
auch wenn sie für die Schweiz bindend sind.
Die Sprache, in der Präambeln für Kantonsverfassungen, für
die Bundesverfassung und für internationale Übereinkommen niedergeschrieben
werden, zeigt auf der einen Seite noch immer einen spätbarocken
Duktus, auf der anderen Seite das Pathos der Deklaration der Menschenrechte
von 1789.
Persönlich war ich in der Kommission für Ingress und Grundrechte
der Meinung, eine invocatio Dei in der Präambel einer Kantonsverfassung
sei nicht angebracht, zudem könne ohne Schaden für die Verfassung
eines Kantons auf eine eigene Präambel verzichtet werden, weil das
unweigerlich zu bloss rhetorischen Figuren führe, wie sie unter
12. in dieser Untersuchung angeführt sind.
17. Präambeln zur Auswahl
Im Zwischenbericht der Kommission Ingress und Grundrechte vom 5. September
2002 wurden dem Verfassungsrat drei Thesen unterbreitet:
These 1: Es ist der Verfassung eine Präambel voranzustellen.
These 2: Es ist in die Verfassung keine invocatio Dei aufzunehmen.
These 3: Eine Konsultativabstimmung soll aufzeigen, welcher Ebene des
Staatsverständnisses der Vorzug zur Ausarbeitung einer Präambel
gegeben wird.
Das hiess ganz einfach, dass der gesamte Verfassungsrat sich darüber
Rechenschaft geben sollte, dass er in der Formulierung einer Präambel,
sollte diese denn nötig sein, sich völlig frei fühlen
könne. Um den Mitgliedern des Verfassungsrates den gedanklichen
und sprachlichen Spielraum klar zu machen, beschloss die Kommission,
dem Plenum insgesamt sechs Präambeln oder Ingresse vorzulegen, die
jedesmal von einem anderen Gesichtswinkel ausgingen, wie ein kantonales
Gemeinwesen zu verstehen sei.
Ingress Nr. 1: Thema Voraussetzungen
Auf der einen Seite werden die entscheidenden politischen Vorgänge,
die zur total revidierten Verfassung geführt haben, festgehalten;
auf der anderen Seite wird die Kantonsverfassung in die übergeordneten
völkerrechtlichen Verträge eingeordnet.
Die nachstehende Verfassung des Kantons Basel-Stadt,
ausgelöst durch den Volksentscheid vom 18. April 1999 über
die Totalrevision der Kantonsverfassung,
ausgearbeitet und verabschiedet von einem sechzigköpfigen Verfassungsrat
in den Jahren 2000 bis 2...,
angenommen durch die stimmberechtigten Frauen und Männer im Kanton
Basel-Stadt in der Volksabstimmung vom ........,
setzt die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft von
1999 und die in ihr definierten Grundrechte voraus,
anerkennt die von der Schweiz 1974 ratifizierte Europäische Menschenrechtskonvention,
weiss sich den von der Schweiz 1992 ratifizierten UNO-Pakten über
die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen sowie über die bürgerlichen
und politischen Rechte verpflichtet,
unterstellt sich den völkerrechtlich verbindlichen Verträgen
mit anderen Staaten oder Staatengemeinschaften und der Organisation der
Vereinten Nationen
und hat zum Ziel, das geistige und materielle Wohlergehen aller Menschen
in ihrem Wirkungsbereich zu fördern und ihnen ein friedliches Zusammenleben
in Freiheit, gegenseitiger Achtung und Anerkennung zu ermöglichen.
Ingress Nr. 2: Thema politische Räume
Die Präambel nennt in einem geografischen Sinn die sehr spezielle
Lage des Kantons Basel-Stadt und macht klar, dass eine grenzüberschreitende
Aktivität dieses Kantons notwendigerweise zu Beziehungen auch mit
der EU führen muss.
Der Kanton Basel-Stadt,
in Treue zum Bundesstaat der Schweizerischen Eidgenossenschaft,
angewiesen auf eine enge und freundschaftliche Zusammenarbeit mit den
angrenzenden Gemeinwesen in der Nordwestschweiz und am Oberrhein,
eingedenk seiner weit gegen Frankreich und Deutschland hinausgeschobenen
Lage als Grenzstadt zur Europäischen Union,
der Welt verbunden durch seine Universität, seine Industrie, seine
Verkehrslage und die Interessen seiner Bevölkerung,
bestrebt, die hier wohnenden Menschen frei, gerecht und in der Verantwortung
für andere, für sich selber sowie für die kommenden Generationen
zusammenleben zu lassen,
hat sich am ........ durch den Entscheid der stimmberechtigten Bürgerinnen
und Bürger diese Verfassung gegeben.
Ingress Nr. 3: Thema Zweckbestimmung
Die wichtigsten inhaltlichen Aufgaben einer Verfassung werden in
möglichst
nüchterner Sprache rekapituliert.
Um die Rechte aller in Basel-Stadt wohnenden Personen festzuschreiben,
um die Ziele zu setzen, nach denen sich dieses Staatswesen zu richten
gedenkt,
um das Zusammenwirken von Parlament, Regierung, Verwaltung und Justiz
zu ordnen,
um die Volksrechte zu garantieren, dank denen die Bürgerinnen und
Bürger politisch aktiv werden können,
um festzulegen, wie der Kanton Basel-Stadt seine Aufgaben zu erfüllen
gedenkt,
haben die Stimmberechtigten dieses Kantons, der als souveräner Gliedstaat
der Schweizerischen Eidgenossenschaft angehört, sich am ..... eine
neue Verfassung gegeben.
Ingress Nr. 4: Thema Vorsätze
Der Kanton wird gewissermassen als ein Subjekt sichtbar gemacht, das
sich verschiedene Aufgaben vorgenommen hat.
Im festen Willen, als souveräner Kanton der Schweizerischen Eidgenossenschaft
anzugehören,
im Vertrauen auf die demokratische Gesinnung seiner Bürgerinnen
und Bürger,
den Ideen der Toleranz, der Solidarität und der gegenseitigen Verantwortlichkeit
verpflichtet,
in der Absicht, die Gunst der Lage am Oberrhein als einen Auftrag zur
grenzüberschreitenden Vermittlung zu verstehen,
entschlossen, eine im besten Sinn europäische geistige Tradition
weiterzuführen.
und eingedenk der Tatsache, dass unser Wohlergehen mit dem Schicksal
der übrigen Welt verbunden ist,
hat sich der Kanton Basel-Stadt mit der Zustimmung seiner Stimmberechtigten
am ..... diese neue Verfassung gegeben.
Ingress Nr. 5: Thema Besonderheiten
Der Ingress soll den Leserinnen und Lesern noch einmal klar machen,
inwiefern sich der Kanton Basel-Stadt durch seine Lage und seine Struktur
von anderen Kantonen unterscheidet.
Der Kanton Basel-Stadt,
nach seinem Gebietsumfang der kleinste, zugleich der am dichtesten bevölkerte
Kanton der Schweiz,
ein Stadtstaat mit zwei Landgemeinden, dessen Kantonsbehörden auch
für die Stadtgeschäfte zuständig sind,
inmitten einer internationalen Region gelegen, für die er immer
wieder als Zentrum zu dienen bereit ist,
ein Eingangstor zur Schweiz für Eisenbahnen, Automobile, Schiffe
und Flugzeuge,
eine Universitäts-, Kultur- und Museumsstadt, Standort forschender
und weltweit tätiger Unternehmen,
hat sich durch den Beschluss seiner Stimmbürgerinnen und Stimmbürger
vom .... eine neue Verfassung gegeben,
mit der er seine Aufgaben als souveräner Stand der Eidgenossenschaft
im Einvernehmen mit den benachbarten Gemeinwesen und zum Wohl seiner
Bevölkerung zu erfüllen gedenkt.
Ingress Nr. 6: Thema Solidarität der Generationen
Es soll vor allem eine Brücke aus der Vergangenheit in die Zukunft
geschlagen werden, wobei der gegenwärtigen Generation eine besondere
Verantwortung zugehalten wird.
Die Stimmberechtigten des Kantons Basel-Stadt,
aufbauend auf den Errungenschaften früherer Generationen,
im Bewusstsein der Verantwortung gegenüber der Nachwelt,
im Bestreben, nachhaltige wertverbessernde Entwicklungen zu fördern,
in der Pflicht gegenüber Natur und Umwelt und
in der Absicht, die Bedeutung des Kantons als Zentrum von Lehre und Forschung,
Kultur und Wirtschaft auch im Interesse der Schweizerischen Eidgenossenschaft
und der grenzüberschreitenden Region zu festigen,
geben sich die folgenden Verfassung:
18. Grundrechte der Europäischen Union vom 12. Juni 2003
Der von Gisgar d’Estaing präsidierte Europäische Konvent
ist als ein von den nationalen Regierungen und vom europäischen
Parlament gewählter Verfassungsrat zu betrachten. Er legte im Sommer
2003 einen Verfassungsentwurf vor, hatte also in wesentlich kürzerer
Zeit als der baselstädtische Verfassungsrat seine Aufgabe erledigt.
In der spezifischen französischen Tradition und mit Rücksicht
auf europäische Empfindlichkeiten ist in diesem Dokument nicht von
einer Verfassung, sondern von einer Charta die Rede.
Die Präambel versucht den wichtigsten Zweck der Europäischen
Union zu definieren und eine Sichtweise zu fördern, die sowohl nationale
wie regionale und lokale Grössenordnungen wahrnimmt. Sie will das
eigene Dokument in die komplexe Architektur internationaler Übereinkommen
einbauen und nennt explizit verschiedene Gerichtshöfe.
Von Gott ist nicht die Rede, nur von einem geistig-religiösen
Erbe.
Präambel:
Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer
Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer
engeren Union verbinden.
In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes
gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte
der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.
Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit.
Sie stellt den Mensch in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die
Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und
des Rechts begründet.
Die Union trägt zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen
Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker
Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der
Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler und
lokaler Ebene bei. Sie ist bestrebt, eine ausgewogene und nachhaltige
Entwicklung zu fördern und stellt den freien Personen-, Waren-,
Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit
sicher.
Zu diesem Zweck ist es notwendig, angesichts der Weiterentwicklung der
Gesellschaft, des sozialen Fortschritts und der wissenschaftlichen und
technologischen Entwicklungen den Schutz der Grundrechte zu stärken,
indem sie in einer Charta sichtbarer gemacht werden.
Diese Charta bekräftigt unter Achtung der Zuständigkeiten
und Aufgaben der Union und des Subsidiaritätsprinzips die Rechte,
die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den
gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus
der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten,
aus den von der Union und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie
aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und
des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergeben. In
diesem Zusammenhang wird die Charta von den Gerichten der Union und der
Mitgliedstaaten unter gebührender Berücksichtigung der Erläuterungen,
die auf Veranlassung und in eigener Verantwortung des Präsidiums
des Konvents zur Ausarbeitung der Charta formuliert wurden, ausgelegt
werden.
Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortlichkeiten und Pflichten
sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen
Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden.
Daher erkennt die Union die nachstehend aufgeführten Rechte, Freiheiten
und Grundsätze an.
19. Entscheid des Verfassungsrates von Basel-Stadt vom 21. August 2003
Der Verfassungsrat des Kantons Basel-Stadt beschloss zu diesem Datum,
auf eine Präambel in der revidierten Kantonsverfassung mit der knappen
Mehrheit von zwei Stimmen ganz zu verzichten. Damit erledigte sich auch
die Frage einer invocatio Dei.
Ziemlich sicher wird der Verfassungsrat bei der zweiten Lesung sowohl
auf eine Präambel wie auf den lieben Gott zurückkommen.
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